Sehen

Sehen

Sehen, verb. irregul. ich sehe, du siehest, (siehst), er siehet, (sieht); Imperf. ich sahe, Conj. sähe; Mittelw. gesehen; Imperat. siehe (sieh). Es ist in doppelter Gestalt üblich.

I. Als ein Neutrum mit dem Hülfsworte haben. 1. Eine gewisse Gestalt haben, welche durch ein Beywort ausgedruckt wird. Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen, Matth. 6, 16; eine sauere Gesichtsbildung annehmen. Warum siehest du so scheel? Matth. 20, 10. Die Jungfrauen sehen jämmerlich, Kap. 1, 4. So sauer auch die liebe Mutter sah, Gell.

Blaß sehen. Er siehet wie Wein. Die Farbe sieht grünlich. Sie sehen ja ganz verdrüslich, Gell. Jetzt sehen sie so fein rothbäckig, wie ein Borstorfer Äpfelchen, Weiße.


Man mag gleich stumm und hirnlos seyn,

Man seh nur schön, so nimmt man ein,

Gell.


Es ist in dieser Bedeutung nur im gemeinen Leben und in der vertraulichen Sprechart üblich, besonders in Meißen, obgleich auch dafür aussehen üblich ist. Nur in den R.A. ähnlich sehen, gleich sehen ist es überall gebräuchlich. Er siehet dir sehr ähnlich. Der Tomback sieht dem Golde gleich. 2. Eine gewisse Richtung haben; eine Bedeutung, welche im Oberdeutschen üblicher ist, als im Hochdeutschen. Die Spitzen der Berge sahen am siebenten Tage hervor, 1 Mos. 4, 5. Die Fenster sehen auf die Gasse. Das Land siehet gegen Morgen.

II. Als ein Activum, ob es gleich auch hier oft absolute und in Gestalt eines Neutrius stehet, vermittelst des Auges empfinden, sich das Bild einer Sache vermittelst der Strahlen, die aus derselben in das Auge fallen, vorstellen.

1. Eigentlich. Sowohl absolute und in Gestalt eines Neutrius. Ich sehe nicht. Vor dem Nebel kann man nicht sehen. Er siehet nicht gut, hat ein blödes Gesicht. Wenn ich anders recht sehe. Meine Augen sehen nicht so weit. Nicht aus den Augen sehen können. Nun sehen sie aus andern Augen, fig. nun haben sie eine weit bessere Gestalt. Durch ein Glas, durch die Brille sehen. Durch die Finger sehen, figürlich, eine Sache mit Wissen ungeahndet lassen. Von der Seite sehen.

Als auch in mehr thätiger Gestalt, mit der vierten Endung. Ich sehe nichts. Du sahest alles. Vier Augen sehen mehr als zwey. Von allen gesehen werden. Ich sehe es mit meinen Augen, vor meinen Augen, eine nachdrückliche Art zu reden. Sich an etwas nicht satt sehen können. Ja, wie sie sehen. Es ist was Neues zu sehen. Es giebt hier was zu sehen. Ich will den sehen, der etwas daran zu tadeln findet, d.i. es wird gewiß niemand etwas daran zu tadeln finden. Seine Freude, seine Lust an etwas sehen, eine besondere R.A. es mit Wohlgefallen ansehen; seinen Jammer an etwas sehen, es mit Jammer ansehen.

Ingleichen mit allerley Vorwörtern. Auf etwas sehen, die Augen darauf richten. Jedermann sahe auf ihn. Ich habe nicht darauf gesehen. Jemanden auf die Finger sehen, seine Handlungen genau beobachten. Eine andere figürliche Bedeutung mit dem Vorworte auf kommt im folgenden vor. Jemanden in das Gesicht sehen. Man kann nicht allen Leuten in das Herz sehen. Jemanden in die Karte sehen. Einem in die Hände sehen müssen, figürlich, seinen Unterhalt sparsam von ihm haben.


Geschwind, wir müssen ganz in dies Geheimniß sehen,

Weiße,


es zu ergründen suchen. Nach etwas sehen, auch figürlich sehen, ob es nicht etwa Schaden leide. Nach dem Essen, nach dem Kranken sehen.

Sehr häufig wird sehen lassen, für zeigen, und sich sehen lassen, für zum Vorschein kommen, erscheinen, sichtbar seyn, gebraucht. Etwas für das Geld sehen lassen. Jemanden seine Schätze sehen lassen.


Laß sehn, spricht Galathee, obs auch die meine sey,

Gellert.


Es läßt sich ein Komet, ein Irrlicht, ein Gespenst sehen. Die Frau hat sich nach ihrem Tode sehen lassen, ist erschienen. In diesem Selbstbetruge wird sie ihnen (besser sie) ihr ganzes Herz sehen lassen, Gell. Da kann ich ihnen (sie) die Geschicklichkeit meiner Frau sehen lassen, eben ders. Laß mich es sehen, nicht mir. Sich den ganzen Tag nicht sehen lassen, nicht unter die Leute kommen. Er darf sich nicht sehen lassen.

Der Imperativ siehe wird in der Deutschen Bibel häufig gebraucht, Aufmerksamkeit zu erregen. In diesem Verstande ist er veraltet; aber man gebraucht ihn noch häufig, theils seine eigene Verwunderung auszudrücken, theils solche bey andern zu erwecken, da man ihm denn in der zweyten einfachen Person allemahl ein da zugesellet; siehe da! Ich stand und wartete, und siehe da! er kam nicht. Siehe da, wie übel du gethan hast. In den übrigen imperativischen Formen fällt dieses da weg. Man sehe doch, wie sich die Männer geschwinde ändern können. Seht doch! gleich den Stuhl vor die Thüre gesetzt! Gell.

Das Mittelwort sehend kommt sowohl in adverbischer als adjectivischer Gestalt vor, ist aber mehr der vertraulichen und gemeinen Sprechart eigen, als der höhern. Wieder sehend werden, sein Gesicht wieder bekommen. Die Blinden sehend machen, in der Deutschen Bibel. Saul war drey Tage nicht sehend, Apost. 9, 9. Sehende Augen, häufig in der Deutschen Bibel. Mit sehenden Augen blind seyn. Geschenke machen die sehenden blind, 2 Mos. 23, 8.

Wenn sehen ein Zeitwort ohne daß bey sich hat, so stehet dieses Zeitwort im Infinitiv ohne zu; eine Wortfügung, welche auch bey den Zeitwörtern dürfen, heißen, helfen, hören, lassen, können, lehren, lernen, müssen, u.s.f. statt findet. Ich sahe ihn kommen. Einen Mann von Kenntniß und Geschmack siehet man wohl lächeln, hört ihn aber niemals lachen. Ich sehe dich leiden, weinen, deine Hände ringen, höre deine Klagen, deine Seufzer alle, Dusch. Da denn in den zusammen gesetzten Zeiten auch sehen sein Augment verliehret. Man hatte mich herum schleichen sehen, Weiße; nicht gesehen. Ich habe ihn in großer Eil aus dem Hause laufen sehen, Gell. Nur muß man diejenigen Fälle zu vermeiden suchen, wo das andere Zeitwort sowohl einer thätigen als leidenden Bedeutung fähig ist, weil alsdann die Zweydeutigkeit nicht zu vermeiden ist; z.B. ich sahe ihn prügeln, ich habe ihn taufen sehen.

Ganz wider diese Regel heißt es bey dem Opitz:


So daß man diesen Tod sieht offenbar zu seyn

Zugleich bey Freund und Feind;


d.i. daß er Freunden und Feinden bekannt ist. Und an einem andern Orte:


Lehrer, die man doch gesehn entblößt zu seyn

Von irgend einer Macht.

Zu geschweigen, daß das Zeitwort seyn mit sehen nicht im Infinitiv verbunden werden kann.

2. Figürlich, von verschiedenen Wirkungen der Seele, welche durch den Sinn des Gesichts veranlasset werden, und mit demselben verbunden sind.

(1) Unmittelbar empfinden, durch die Sinne erfahren, doch immer zunächst von der Erfahrung oder Empfindung durch den Sinn des Gesichts. Man muß sehen und auch nicht sehen. Ich sehe wohl, daß er mich nur hintergehen will. Ich muß sehen, daß man mich verachtet. Die Gefahr vor Augen sehen. Wie sie sehen, der Handel ist geschlossen. Ich will die Sache geendiget sehen. Er möchte gern jedermann glücklich sehen. Soll ich dich in kurzem an dem Nöthigen Mangel leiden sehen? Etwas gern sehen, herrschende Lust oder Vergnügen daran empfinden. Du wirst hier nicht gern gesehen. Wir sehen täglich, daß Personen sich aus Dingen ein Vergnügen machen, worin alle übrige keines finden. Ich will doch sehen, wie es ablaufen wird. Ich will nur gerne sehen, was daraus werden wird. Wenn ich sehe, daß mein Bitten sein Herz nicht rühret. Wer rühmlich handelt, weil er keinen Bessern über sich sehen will, der ist aus der bösesten Neigung, aus Neid, gut, Gell. Wer einsam lebt, hat wenig Gelegenheit das zu sehen, was unter der menschlichen Gesellschaft vorgehet. Wenn dieses Wort in der Deutschen Bibel von Gott gebraucht wird, so bedeutet es, aus unmittelbarer Vorstellung auf anschauende Weise erkennen.

(2) Schließen, urtheilen. Hieraus sehe ich, daß u.s.f. Ich sehe es dir an den Augen an. Man siehets an seinen Kleidern, daß er wenig Geschmack besitzet. Ich sehe nicht, wozu das soll. Er lachte, aber man sahe, daß dieß Lachen nicht aus dem Herzen kam. Ich sehe nur allzuwohl, was dieses zu bedeuten hat.


So weit sah keiner noch, als der gesehen hat,

Gell.


(3) Versuchen, einen Versuch machen. Wir müssen sehen, daß wir ihn dazu bewegen. Ich will sehen, ob ich etwas ausrichten kann. Sehen sie, daß sie ihn hierher bringen. Laß sehn, wer unter uns am weitesten werfen kann, Rost. Ich will sehen, ob ich nur noch einige Tage Aufschub erhalten kann, Weiße.

(4) Sorge, Fleiß, Mühe anwenden. Wir müssen sehen, daß wir Geld bekommen. Er mag sehen, wie er zurecht kömmt, er mag dafür sorgen. Wir wollen sehen, wie wir mit ihr aus einander kommen, Gell. Besonders mit dem Vorworte, auf, auf etwas sehen, Sorge dafür tragen, es zu erhalten, zu bekommen. Nur auf seinen Nutzen sehen. Er siehet nicht auf das Geld. Wir müssen doch ein wenig auf das Äußerliche sehen. Bey einer guten Erziehung muß vornehmlich darauf gesehen werden, daß junge Leute mit Geschmack und Empfindung lesen lernen, Gell. Ingleichen in Betrachtung ziehen. Sehen sie nicht auf den Werth des Geschenkes, sondern auf mein Herz.

So auch das Sehen. Siehe auch das Gesicht.

Anm. Schon im Isidor, bey dem Kero u.s.f. sehan, bey dem Ulphilas mit einem starken Hauche, der in den Gaumenlaut übergehet, saighan, im Niederdeutschen ohne Hauchlaut seen, im Engl. to see, im Angels. seon, im Schwed. se, im Ißländ. sia, im Äolischen σεάειν, wofür andere Griechische Mundarten θεάειν sagen, im Hebr. שכה ,שעה ,תזה. Die neutrale Bedeutung, gesehen werden, eine gewisse Gestalt haben, ist ohne Zweifel die erste und älteste, und da dieses eine Wirkung des Lichters ist, so erhellet daraus die Verwandtschaft dieses Wortes mit Schein, Hebr. זין, zumahl da in allen alten morgenländischen Sprachen זתא, glänzen bedeutet. Das mehr Oberdeutsche schauen, ist bloß ein Intensivum von sehen, so wie suchen, fehnen und zielen, Intensiva in andern Bedeutungen, zeigen aber, Engl. to shew, das Factitivum davon ist.

Aus der irregulären Form dieses Zeitwortes erhellet, daß es aus mehrern Mundarten zusammen gesetzet ist, wovon sich in den Provinzen noch häufige Spuren finden. Im Österreichischen gehet das Präsens: ich siech, du siechst, er siecht, Imperat. sich; in andern Oberdeutschen Gegenden, ich siehe, du siehest u.s.f. In noch andern Gegenden gehet es regulär, ich sehe, du sehest, er sehet etc. Imperf. ich sehete, Imperat. sehe. Der Imperat. lautet im Isidor see und seegi, im Tatian, wenn es anders keine falsche Leseart ist, senu. Im Hochdeutschen ist das e in der ersten Sylbe scharf, wie in gehen; die Schlesier und einige andere Mundarten sprechen es wie ä, séhen.


http://www.zeno.org/Adelung-1793. 1793–1801.

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