Ziehen

Ziehen

Ziehen, verb. irregul. ich ziehe, du ziehest, er ziehet, oder zieht, (Oberd. du zeuchst, er zeucht,) Conj. daß ich ziehe u.s.f. Imperf. ich zog, Conj. zöge; Particip. gezogen; Imperat. ziehe, oder zieh, (Oberd. zeuch.) Es ist in einer dreyfachen Gestalt üblich.

I. Als ein Activum, einen Körper langsam nach sich zu in Bewegung setzen. Geschiehet diese Bewegung nach sich zu nicht langsam und nach und nach, sondern schnell und mit Heftigkeit, so heißt sie reißen. Geschiehet sie von sich weg, und zwar langsam, so heißt sie schieben, und wenn sie mit Heftigkeit geschiehet, stoßen. Ziehen ist also in Ansehung der Richtung dem schieben, in Ansehung des Grades der Stärke aber dem reißen entgegen gesetzt.

1. Eigentlich, einen Körper, mit welchem man zusammen hängt, oder ein Continuum mit demselben ausmacht, langsam nach sich zu, und in weiterer Bedeutung, langsam nach einer gewissen Richtung, bewegen. Die Pferde ziehen den Wagen. Ein Pferd, das nur zum Ziehen taugt. Wasser aus dem Brunnen ziehen. Jemanden bey den Haaren ziehen. Flachs durch die Hechel ziehen, ihn hecheln; daher figürlich, jemanden durch die Hechel ziehen, ihn durchhecheln. Etwas mit einem Haken, mit einem Bande zu sich ziehen. Ein Band fester zusammen ziehen. Den Fuß, die Hand zurück ziehen. Den Kopf aus der Schlinge ziehen. Den Mund ziehen. Die Achseln ziehen, in die Höhe ziehen, zucken. Den Hut ziehen, von dem Kopfe, ihn abziehen. Den Degen ziehen, aus der Scheide, von Leder ziehen. Einen Nagel aus der Wand ziehen. Ein Schiff an das Land ziehen. Die Glocke ziehen. An einem Seile, am Ruder, am Joche ziehen. Den kürzern ziehen, ein figürlicher Ausdruck, S. Kurz.

2. In weiterer und figürlicher Bedeutung. (a) Viele Handlungen, welche mit dem vorigen Ziehen verbunden sind, werden oft nur ziehen schlechthin genannt. Draht ziehen, Metall durch das Ziehen in Draht verwandeln. Lichte ziehen, durch Eintauchen der Dachte Lichte machen; gezogene Lichte, zum Unterschiede von gegossenen. Federspulen ziehen. Den Beutel ziehen, heraus ziehen, um zu bezahlen; auch figürlich, für bezahlen. Saiten auf eine Violine ziehen, spannen. Ein Feuergewehr ziehen, es inwendig mit geraden oder gewundenen Reifen versehen; daher ein gezogenes Rohr. Eine Lotterie ziehen. Viel Geld ziehen, aus etwas ziehen, einnehmen. Doppelten Gewinn ziehen, haben, bekommen. Interessen ziehen. Einen Wechsel auf jemand ziehen, oder auch als ein Neutrum, auf jemand ziehen, auf ihn trassiren. Eine Linie ziehen. Furchen ziehen. Eine Mauer ziehen, führen, oder machen. Blasen ziehen, entstehen machen. (b) Auf eine oder die andere Art in Bewegung setzen, in vielen einzelnen Fällen. Die Sonne zieht die Dünste aus der Erde. Die Sonne zieht Wasser, sagt man, wenn sie zwischen ein Paar dichten Wolken durchscheinet, so daß man einen hellen Streifen siehet. Die Pferde aus dem Stalle, in den Stall ziehen, führen. Den Wein auf Bouteillen ziehen, zapfen. Jemanden auf die Seite ziehen, ihn auf die Seite treten machen. Jemanden an sich ziehen, auf seine Seite, auf seine Parthey ziehen. Die Sonne ziehet die Farbe aus dem Tuche.


O wenn dich noch ein Opferschmaus herab vom Himmel ziehet,

Raml.


Jemanden vor Gericht ziehen, nöthigen, vor Gericht zu erscheinen, ihn verklagen. Der Magnet ziehet das Eisen an sich. Etwas an sich ziehen, es in seinen Besitz bringen. Das Gefäß zieht Wasser, wenn es das Wasser eindringen läßt. Die Sonne hat das Bret ganz krumm gezogen. Truppen zusammen ziehen, versammeln. (c) Herleiten, hernehmen. Seine Nahrung aus etwas ziehen. Eine gute Lehre aus etwas ziehen. Eine Folge aus etwas ziehen. Etwas aus einem Buche ziehen, schreiben. Den Inhalt heraus ziehen. Nutzen, Vortheil aus etwas ziehen. (d) In vielen andern Fällen lässet es sich nicht anders als sehr allgemein bestimmen, da denn die nähere Art der Veränderung durch allerley Beysätze bezeichnet wird. Etwas in Betrachtung, in Erwägung ziehen, es erwägen, bedenken. Etwas auf sich ziehen, deuten, auslegen. Jemanden mit etwas in Verdacht ziehen, haben. Jemanden zu Rathe ziehen, sich seines Rathes bedienen. Sie haben mich mit in ihr Geheimniß gezogen, haben es mir anvertrauet. Zu wichtigen Sachen gezogen werden. Jemanden zur Verantwortung, zur Strafe ziehen. Sich etwas zu Gemüthe ziehen, sich darüber beunruhigen, Kummer darüber empfinden. Sich ein Unglück über den Hals ziehen, sich dasselbe verursachen. Das ziehet viel Unglück, viel Böses nach sich. Den Krieg in die Länge ziehen, seine lange Fortdauer verursachen, ihn verlängern. (e) Von der Stimme und dem Tone der Stimme gebraucht man ziehen für dehnen. Die Wörter ziehen. Daher einige Sprachlehrer den gedehnten Ton den gezogenen nennen, wofür doch der gedehnte edler ist. (f) Durch Pflege und Wartung heran wachsen machen, wo es wieder mit Verschiedenen Schattirungen gebraucht wird. 1. Ein Kind, ein junges Thier groß ziehen, es durch Pflege und Nahrung zum erwachsenen Alter bringen, es aufziehen. Nelken aus dem Samen ziehen, groß wachsen machen. Einen Bart ziehen, wachsen lassen. 2. Fortpflanzen machen, und zugleich groß ziehen. Holstein ziehet viele Pferde, Liefland viel Flachs. 3. Groß ziehen, und zugleich zu einem pflichtmäßigen Verhalten anhalten, erziehen. Ich ziehe ihn zu allem Guten. Ein Kind, welches sich gerne ziehen läßt. Nehmt euern Sohn zurück, ich ziehe nichts aus ihm, Gell. Ich will sie ziehen, wie ich sie mir wünsche, eben ders. In dieser ganzen Bedeutung ist das Wort schon alt, und lautet im Kero zechan, im Ottfried ziuhan, im Schwed. tukta. In dem Lat. educare herrscht eben dieselbe Figur. S. auch Zucht.

II. Als ein Reciprocum, in manchen Bedeutungen des vorigen Activi. (1) Sich langsam fortbewegen. Die Wolken ziehen sich zusammen. Die Truppen ziehen sich nach dem Rheine. Sich zurück ziehen. Ein röthliches Gemisch zieht von dem Berge sich ins Thal, Gesn. 2. Sich dehnen oder ziehen lassen. Der Leim ziehet sich, wenn er sich ausdehnen läßt. Der Weg ziehet sich in die Länge, wenn er lange dauert. 3. Seine Richtung verändern. Die Wand ziehet sich, im Bergbaue, wenn sie einen Bug bekommt und einstürzen will. Das Bret hat sich gezogen, wenn es sich geworfen hat. 4. Sich in die Länge erstrecken. Das Gebirge ziehet sich weit in das Land. Der Wald ziehet sich nach dem Flusse zu. 5. Nach und nach in etwas eindringen. Das Wasser ziehet sich in den Schwamm. Der Geruch ziehet sich in die Kleider. 6. In manchen einzelnen Fällen bedeutet es überhaupt, eine langsame Veränderung an sich bewirken. Sich mit Klugheit aus einer Sache ziehen, die Verbindung mit derselben aufheben. Sich ins Kleine, in die Enge ziehen, seinen äußern Umfang, seinen Wirkungskreis vermindern, seine Ausgaben einschränken, u.s.f. Eine blaue Farbe zieht sich in das Rothe, wenn ihr ein wenig Roth beygemischet ist; ist die Beymischung stärker, so gebraucht man das Wort fallen.

III. Als ein Neutrum, in verschiedenen figürlichen Bedeutungen des vorigen Activi, mit dem Hülfsworte seyn. 1. Sich langsam fortbewegen. Die Wolken ziehen gegen Abend. Die Vögel ziehen, wenn sie ankommen und fortstreichen. Ich sah sie, die Göttin deines Stroms vor deinem Tannenhaine mit ihren Schwänen ziehn, Raml. Die Jäger ziehen zu Holze. Die Armee ziehet durch das Land. Am häufigsten wird es freylich von der langsamen Bewegung mehrerer Dinge einer Art gebraucht, aber auch häufig von einzelnen Dingen. Der Ackermann ziehet zu Felde, wenn er mit dem Pfluge in das Feld gehet. In den Krieg ziehen, Kriegesdienste nehmen. Auf die Wache ziehen, von Soldaten. Er zog seine Straße fröhlich, in der Deutschen Bibel; doch ist es in diesem Verstande für gehen im Hochdeutschen veraltet. Nur die Jäger gebrauchen es noch von dem Hirsche für gehen. 2. Seinen Wohnort, den Ort seines Aufenthaltes verändern. Aus einem Hause, in ein Haus ziehen. Aus der Stadt, auf das Land ziehen. In ein anderes Land ziehen. Auch von dem Gesinde und den Dienstbothen, wenn sie ihre Herrschaft verändern. Mein Bedienter ist von mir gezogen. Zu jemanden, von jemanden ziehen. In einen Dienst, aus einem Dienste ziehen.

Anm. 1. Dieses Verbum lautet von den frühesten Zeiten an zechan, ziuhan, bey dem Ulphilas tiuhan, im Nieders. tehen, teën, im Engl. tug und tow, im Schwed. toga, womit auch das Lat. ducere und unser zähe verwandt ist. Es erhellet daraus zugleich, daß die Verwechselung des t und z bloß eine Eigenheit der Mundarten ist, welche an dem Wesen des Wortes nichts verändert. Dieß voraus gesetzt, ist dieses Wort auch darum merkwürdig, weil es, wenigstens in den Mundarten und verwandten Sprachen, mehrere alte Ableitungsformen aufbehalten hat. Vermittelst der intensiven Ableitungssylbe -nen ist daraus unser dehnen, Nieders. tanen, stark ziehen. Die iterative Ableitungssylbe -ren gibt das Nieders. tiren, oft ziehen, wovon unser zerren, heftig hin und her ziehen, das Intensivum ist. Das Österreichische zügeln, und Hannöv. taheln, unser zucken, zupfen, Zucht, züchtigen, das Meklenburgische todden, unser zotteln, zögern, zaudern, u.a.m. sind wieder nach andern Formen abgeleitet. S. auch Zug.

Anm. 2. In einigen Oberd. Gegenden lautet dieses Verbum züchen oder zeuchen, und davon ist im Präsenti du zeuchst, er zeucht, und im Imperativo zeuch, ein Überrest, der von den Dichtern von Opitzens Zeit an beybehalten worden, und dem du ziehest, er zieht, ziehe, vorgezogen worden, weil jenes den Mund mehr füllet. Aus eben der Ursache behalten auch unsere heutigen Dichter selbige bey.


http://www.zeno.org/Adelung-1793. 1793–1801.

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